Rudolf Wötzel – Über die Berge zu mir selbst

Wandern. Pilgern. Wer Hape Kerkelings Ich bin dann mal weg verpasst hat, dürfte spätestens mit der Sendung Das große Promi-Pilgern gemerkt haben, dass Pilgern in ist. Die Statistik zeigt, dass Pilgern auf dem Jakobsweg schon zum Lifestyle gehörte, Hape lediglich noch den Anteil der Deutschen als i-Tüpfelchen erhöht hat. Böse Zungen stellen provokante Fragen wie z.B. ob Hape den Jakobsweg kaputtgemacht hat.

Aber darum geht es hier nicht. Ex-Banker Rudolf Wötzel hat Ähnliches gemacht wie Hape Kerkeling, nur anders. Er ist zu sich selbst gepilgert. Von Salzburg nach Nizza 1.800 km über die Alpen. Und danach hat er ein Buch darüber geschrieben. Auch wie Hape, aber auch wieder anders.

Der Inhalt

Es tut mir leid für Rudolf Wötzel, aber den Vergleich mit Hape Kerkeling wird er sich wohl öfter anhören müssen, haben sie es doch beide in die Der Spiegel-Bestsellerlisten geschafft: Kerkeling eine halbe Ewigkeit auf Platz 1, Wötzel immerhin bis auf Platz 15 in KW 22/2009.

Wötzel war ein sehr erfolgreicher Banker, der noch vor der Finanzkrise aus der Branche ausgestiegen ist. Er brauchte eine Abwechslung und hat sich als Ziel “Projekt Hannibal” gesetzt: Den Marsch über die Alpen, aber nicht wie sonst üblich von Nord nach Süd, sondern quer von Salzburg nach Nizza.

Das Buch

Der Lesefluss entspricht überraschenderweise Wötzels Verfassung: Genau wie sich Wötzel zu Beginn seiner Reise über die Berge quält, schleppt man sich am Anfang beim Lesen von Seite zu Seite. Beißt man jedoch die Zähne zusammen und liest weiter, wird das Lesen leichter und leichter und plötzlich macht es Spaß.

Wötzel beschreibt seine Wanderung und die Begegnungen unterwegs. Dabei gibt er sich immer wieder selbst Stichworte, die er als Anlass nimmt, die Erzählung durch passende Episoden und Begebenheiten aus seiner Vergangenheit zu unterbrechen. Bei den Rückblicken erzählt er in der dritten Person von sich, um damit eine gewisse Distanz zu signalisieren. Manchmal findet man sich sogar selbst in Herrn W. wieder und irgendwann wird einem klar, wie sehr man selbst ein Produkt seiner Umwelt ist und durch Erwartungen anderer geformt wird.

Für Rudolf Wötzel wird das “Projekt Hannibal” mehr und mehr einer Pilgerfahrt, auf der er mit sich selbst durch innere Zwiegespräche ins Reine kommt und auf diese Weise sein bisheriges Leben akzeptieren kann. Das Buch ist einerseits einer Verarbeitung der Eindrücke und Erfahrungen der Wanderung und Wötzels Verwandlung. Andererseits ist es wunderbare Reiseliteratur für bergaffine Outdoor-Liebhaber. Ich gehe selbst auch gerne in die Natur, und wenn ich mich bei der Frage “Meer oder Berge” entscheiden soll, dann fällt die Wahl eindeutig zugunsten der Berge.

Wötzels Buch macht Lust auf draußen und auf Berge, obwohl er mir für meinen Geschmack zu hoch hinausgeht (ich persönlich muss nicht auf einem handtuchbreiten Grat einen Viertausender erklimmen). Auch wird es manchmal lästig, dass es immer die passende Rückblende zu einer Situation gibt. Davon abgesehen hat das Buch nach den Anfangsschwierigkeiten sehr viel Spaß gemacht. Aber läuft man sich beim Wandern nicht auch erst ein?

Prädikat: Lesenswert, macht nachdenklich

Technische Daten:

Autor: Rudolf Wötzel
Titel: Über die Berge zu mir selbst
ISBN: 978-3-7787-9208-7
Umfang: 495 Seiten